Eines muss ich vorausschicken: Ich bin ausgebildete klassische Sängerin und habe 12 Semester Gesangspädagogik studiert. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen — bin ich der Meinung, dass Gesangstechnik überbewertet wird.
Alle, die Gesangsunterricht hatten, kennen wohl Aussagen wie:
- „Du musst mehr stützen.“
- „Der Vokal sitzt nicht richtig, er muss mehr nach vorne.“
- „Du musst dein Gaumensegel noch mehr heben.“
- „Mach den Mund weiter auf!“
Was sind denn die Konsequenzen solcher Leitsätze? Sie landen im Kopf und müssen schließlich in Muskel-Aktionen übersetzt werden:
- „Du musst mehr stützen“ wird zu „Spanne den Bauch mehr an!“ Oder „Drücke die Rippen nach außen!“
- Der Sitz wird vielleicht mit Grimassen oder mit mehr Druck korrigiert.
- Wie war das nochmal mit dem Gaumensegel? Ach ja: Gähn-Stellung oder heiße Kartoffel.
- Und Mund aufmachen? Ok … dann eben den Kiefer fallen lassen.
So funktioniert das doch, oder? Na ja, meiner Meinung nach nicht unbedingt. Denn die Folge davon ist nicht selten: Erst wenn alles perfekt eingestellt ist und wirklich die besten Voraussetzungen vorhanden sind, scheint Singen überhaupt möglich. Ich habe aber einen gänzlich anderen Ansatz, den ich meiner lieben Lehrerin Susanne Amberg Schneeweis zu verdanken habe. Dieser für mich bessere Weg kann mit folgendem Satz zusammengefasst werden:
Die Technik schützt die Natur.
Es geht dabei darum, wieder zu unserer Natur zurückzufinden. Dafür ist es hilfreich, sich an die eigene Kindheit zu erinnern oder – falls dies nicht so gut funktioniert – junge Kinder zu beobachten. Denn bei Kindern ist Stimme, Bewegung, Atem und Emotion meist noch vollkommen im Einklang und stellt eine Einheit dar, denn:
- Kinder drücken lautstark aus, was gerade da ist.
- Sie folgen jedem Bewegungsimpuls.
- Bewertungen existieren noch nicht. Sie probieren aus, scheitern und probieren weiter.
Wahrscheinlich ahnst du schon, worin ich die Schwierigkeit bei uns beherrschten Erwachsenen sehe? Richtig – uns wurde anerzogen unsere Impulse zu kontrollieren, unsere Instinkte zu unterdrücken und uns anzupassen. Stehsätze wie
- „Sei nicht so laut!“
- „Jetzt heul doch nicht schon wieder!“
- „Hör auf zu gähnen, das ist unhöflich!“
- „Jetzt beherrsch dich doch mal und sitz endlich ruhig!“
stellen eine Unterdrückung von natürlichen Bedürfnissen dar. Diese können in einem gewissen Sinne gesellschaftlich sinnvoll sein, haben aber das Potenzial im Lauf der Zeit die Einheit von Stimme, Bewegung, Atmung und Emotion voneinander abzutrennen.
Im Gesangsunterricht versuche ich die verlorene Einheit von Stimme, Bewegung, Atem und Emotion mit meinen Schülerinnen und Schülern wiederzuerlangen.
Singen ist Körpersache
Die meisten Menschen versuchen, ihr Singen über den Kopf zu steuern. Singen ist aber Körpersache und muss vom Körper geführt werden. Hier ein paar Tipps, die das erleichtern:
- Gehe ins Spiel! Schalte deinen Kopf aus! Bewege dich, singe, was dir Spaß macht und drücke aus, was dich gerade beschäftigt!
- Höre auf, dich schon bei den ersten Tönen zu bewerten. Jede Bewertung ist eine Einschränkung. Um wirklich alle Möglichkeiten zu erkunden, braucht es Freiheit!
- Erspüre, was der Körper dir an natürlichen Unterstützungsfunktionen zur Verfügung stellt. Beim Niesen zum Beispiel arbeitet dein Beckenboden perfekt mit deinem Gaumensegel zusammen!
Zwei Übungen zum Mitmachen
1. Konsonant-Übung: Spüre deinen Beckenboden
Beckenboden und Zwerchfell sind Kollegen. Beim Singen achten die meisten allerdings nur auf ihr Zwerchfell und das führt dazu, dass es viel zu viel arbeiten muss und schnell verkrampft.
Deshalb richte heute mal deine Aufmerksamkeit auf deinen Beckenboden. Nimm dir die drei Konsonant-Kombinationen: /pf, /ts und /ch
Du spürst, dass sie alle an unterschiedlichen Stellen im Mund anschlagen. /pf wird vorne mit Lippen und Zähnen gebildet, /ts mit Zunge und Zähnen und /ch mit Zunge und Gaumen.
Wenn du jetzt artikulierst, dann spüre, wo du den Gegenhalt im Körper fühlen kannst. Wahrscheinlich fühlst du zuerst das Zwerchfell (weil du das so gewohnt bist), aber mit ein bisschen Aufmerksamkeit und Übung wirst du deinen Beckenboden spüren können.
Ganz konkret gibt es einen Punkt etwa auf Höhe der Blase, den du wahrnehmen kannst, dann natürlich den gesamten Beckenboden und vielleicht auch einen Zug am Steißbein.
2. Bell-Übung
Stell dir vor, du bist ein Hund und bellst:
„Wuff, wuff, wuff“.
Es geht hier definitiv nicht um richtige Töne oder gar Tonschönheit, sondern wirklich ums Bellen.
Singe einen Dreiklang von oben nach unten und versuche, die Töne so zu bellen, dass du sie im Beckenboden spüren kannst.
Vielleicht schaltet sich sofort dein Kopf ein, der richtige Töne singen will?
Mit der Zeit wirst du aber den Unterschied zwischen Tönen, die schön gesungen und “kopfgesteuert” sind und Tönen, die wirklich vom Körper unterstützt werden (und übrigens im Lauf der Zeit auch sehr schön werden, das braucht nur ein bisschen mehr Übung) sehr deutlich empfinden können.
Diese Verbindung von Mundraum (Artikulation) und Beckenraum (Gegenspannung), die du mit dieser Übung trainierst, ermöglicht es dir, die Kehle zu entspannen und freizulassen. Damit vermeidest du Überbeanspruchungen deiner Stimmlippen und kommst ohne viele technische Basteleien zu einem vollen und freien Klang.
Viel Erfolg!